Zirkuskind by Irving John

Zirkuskind by Irving John

Autor:Irving, John [John, Irving,]
Die sprache: deu
Format: epub, mobi
ISBN: 978-3-257-60133-6
veröffentlicht: 2013-11-07T16:00:00+00:00


Martin Luther wird anfechtbar zitiert

Martin Mills hatte darauf bestanden, Dr. Daruwalla bei seiner ärztlichen Tätigkeit zuzusehen, weil er der Meinung war, daß der Doktor »das Werk des Herrn« verrichte. Das hatte der Glaubenseiferer verkündet, noch bevor er einen einzigen von Dr. Daruwallas Patienten gesehen hatte. Konnte man Jesus denn näher sein, als wenn man verkrüppelte Kinder heilte? Diese Tätigkeit stand, wie Farrokh vermutete, ganz oben auf derselben Stufe wie die Errettung ihrer kleinen Seelen. Er hatte dem Missionar gestattet, ihm wie ein Schatten zu folgen, aber nur, weil er beobachten wollte, wie sich dieser von den Schlägen erholte. Der Doktor hatte sorgfältig nach Anzeichen für eine gravierende Kopfverletzung Ausschau gehalten, aber Martin Mills widerlegte diese Theorie hartnäckig. Seine spezifische Verrücktheit schien keineswegs traumatisch bedingt, sondern war offenbar die Folge blinder Überzeugung und konsequenter Erziehung. Nach ihren gemeinsamen Erlebnissen in der Fashion Street wagte es Dr. Daruwalla nicht mehr, den verrückten Scholastiker in Bombay frei herumlaufen zu lassen, hatte aber auch noch keine Zeit gefunden, ihn nach St. Ignatius und damit, wie er hoffte, in Sicherheit zu bringen.

Martin Mills hatte das riesige Konterfei von Inspector Dhar [496] auf den neuen Filmplakaten, die über den Ständen des Kleiderbasars in der Fashion Street angeschlagen waren, überhaupt nicht bemerkt. Werbeplakate für andere Filme hingegen waren ihm schon aufgefallen. Unmittelbar neben Inspector Dhar und die Türme des Schweigens hing ein Plakat für den Film Ein Mann sieht rot mit einem überdimensionalen Kopf von Charles Bronson.

»Der sieht ja aus wie Charles Bronson!« bemerkte der Jesuit.

»Das ist Charles Bronson«, belehrte ihn Farrokh. Bei dem Bild von Inspector Dhar hingegen bemerkte der Missionar keinerlei Ähnlichkeit mit sich selbst. Doch die Kleiderhändler warfen dem Jesuiten haßerfüllte Blicke zu. Einer weigerte sich, ihm etwas zu verkaufen; der Scholastiker nahm an, daß er eben nichts in der passenden Größe da hatte. Ein anderer schrie Martin Mills an, sein Auftauchen in der Fashion Street sei lediglich ein Werbetrick, um dem neuen Film Publicity zu verschaffen. Auf diese Idee kam er wahrscheinlich deshalb, weil der Missionar den verkrüppelten Betteljungen unbedingt tragen wollte. Der Vorwurf war auf Marathi erfolgt, worauf der elefantenfüßige Junge auf einen Ständer mit Kleidungsstücken spuckte und damit die Situation noch mehr anheizte.

»Aber, aber, auch wenn sie dich schmähen, lächle einfach. Bezeuge ihnen Nächstenliebe«, hatte Martin Mills zu dem verkrüppelten Jungen gesagt. Offenbar nahm er an, daß Ganesh mit seinem zerquetschten Fuß den Ausbruch verursacht hatte.

Es war ein Wunder, daß sie lebend aus der Fashion Street entkamen. Anschließend konnte Dr. Daruwalla Martin Mills sogar dazu überreden, sich die Haare schneiden zu lassen. Sie waren an sich schon kurz genug, aber der Doktor hatte ihm weisgemacht, daß das Wetter zunehmend heißer würde und daß sich in Indien viele Asketen und Mönche die Köpfe kahlscheren ließen. Der Haarschnitt, den Farrokh in Auftrag gab – für drei Rupien bei einem dieser Straßenfriseure, die am Ende der Kleiderständer in [497] der Fashion Street herumlungerten –, kam einem kahlrasierten Kopf ziemlich nahe. Doch selbst als »Skinhead« haftete Martin Mills noch etwas von Inspector Dhars aggressivem Wesen an.



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